Legen wir sofort los. Nicht mal eine Stunde sind wir unterwegs in einer Landschaft, die den umtriebigen Europäer irgendwie etwas an Österreich erinnert (Auen-gleiche Wiesen zwischen den Wäldern,
leicht bergige Landschaft mit sehr kurvigen Straßen, viele Bäche und Holzhütten, so in der Art …) als er direkt vor uns über den Highway hoppelt: Ursus americanus – der gemeine Schwarzbär.
Ja, Jo und ich haben ihn beide gesehen – nein, niemand von uns hatte das Telefon schnell genug zur Hand um bei 90 km/h ein Foto zu machen.
Selbiges gilt auch für alle anderen animalischen Begegnungen, denn heute scheint absurderweise Tier-Tag zu sein. Zunächst kreuzt ein Reh die Fahrbahn („Schau an, ein Reh.“), als nächstes
besagter Bär („Da! Da! Ein Bär! Wow!“) und schließlich steht auch noch ein kapitaler Elch in aller Seelenruhe direkt neben der Straße und lässt sich’s schmecken („KRASS!!! SIEHST DU
DEN RIESEN-ELCH?! WAHNSINN!!! JAHRHUNDERT-ELCH!!!“) Dass alle Exemplare bei hervorragender Sichtbarkeit gleichzeitig noch weit genug entfernt waren und wir nicht jedes Mal volle Möhre in die
Eisen steigen mussten, grenzt retrospektiv betrachtet auch irgendwie an ein Wunder. Der Tag lässt sich jedenfalls gut an.

Links und rechts versteckt warten sie – Kanadas Tiere.
Wir lassen die nächst größere Stadt Thunder Bay (ON) rechts liegen und folgen dem HWY 17 weg vom Lake Superior in nordwestlicher Richtung. Die Landschaft wechselt einmal mehr ihr Gesicht: Nach
Österreich kommt zum Beispiel eine Strecke, die gut und gerne auch in Südschweden liegen könnte (liegt vielleicht auch an auftauchenden Städtenamen wie Upsala, Suomi und Finland), gefolgt von
flachen, unendlich scheinenden Wald-Weiten, wie man sie in West-Europa eher selten zu sehen bekommt. Auf das gesteigerte Vorhandensein von Fauna in diesen idealen Lebensräume weisen auch die sich
mehrenden Hinweisschilder auf Lodges und Camps mit Angel- und vor allem Jagd-Möglichkeiten hin: „Hubert’s Hunting-Lodge“ – und darunter zwei Piktogramme: Ein lustiges Männchen mit Gewehr
sowie ein Fisch, der freudig auf einen Angelhaken zuhält.

Wird hier jetzt geschossen oder geangelt?
Da die Pausenzeit sich nähert, halten wir derweil auf einen ausgewiesenen Campingplatz direkt am Highway zu, der sich neckisch um einen kleinen See rankt. Von der Straße aus haben wir einen
kleinen Strand sowie Spielplatz-Geräte und die obligatorischen Picknick-Tische ausgemacht und da die Inhaberin sehr zuvorkommend ist, kann Baby ToJo im ersten richtigen See ihres Lebens
planschen. Hin und wieder wird mir bewusst, wie viele Dinge, die für uns geradezu nicht erwähnenswert selbstverständlich sind, dieser kleine Mensch tatsächlich zum allerersten Mal erlebt – und
sei es nassen Sand zwischen den Fingern zu spüren. Vielleicht sehnen sich Menschen, die gerne Reisen und Fremdes wie Neues kennenlernen, eigentlich nach dieser unbewussten Urerfahrung zurück:
Dinge zum ersten Mal erleben. Nicht unbedingt im Sinne von Bungee-Jumping oder Kamel-Reiten oder Fugu essen oder die Chinesische Mauer erklimmen. Eher Dinge erleben, von denen man bislang
keinerlei Konzept und nicht mal eine Vorstellung hat. Die Suche nach Dingen, von denen man noch nicht weiß, dass sie existieren. Vielleicht können wir uns diesen Drang bewahren, um im Leben nicht
stehen zu bleiben.

Der erste See.
Nach einer wirklich schönen Pause mit Picknick geht auf den vermutlich letzten Walmart in Ontario zu – gelegen in der Stadt Dryden am Wabigoon River. Dryden ist alles in allem nicht unbedingt
einen Besuch wert. Das einzige, was die Stadt von den anderen Käffern dieser Größe am Trans-Canadian-Highway unterscheidet, ist die Tatsache, dass das Stadtbild von einer gigantischen
Papierfabrik dominiert wird, die augenscheinlich als Industriestandort und Hauptarbeitgeber für einen gewissen Wohlstand in Dryden gesorgt hat (man leistet sich – zumindest „Downtown“ –
nostalgisch designte Straßenschilder und ist bemüht, eine gewisse naturverbundene Lebensart zu kultivieren), und die andererseits – wenn der Wind günstig liegt – das gesamte Städtchen mit einem
sanften, irgendwie an gekochte Bockwurst erinnernden Geruch beschenkt.

Drydens ganzer Stolz.
Ansonsten gibt’s in Dryden nicht viel zu erleben, was an sich nicht sonderlich problematisch wäre, wenn nicht angesichts der Hitze die verschwindend geringe Auswahl an Schatten das simple
Herumlaufen oder Verharren im Auto zu einer tour de flot de sueur werden ließe. Bis wir also den Walmart mit seinen üblichen Ritualen ansteuern, verbringen wir die Zeit unter einem Baum
neben einem Kriegsdenkmal mit Neon-Flammen („LEST WE FORGET“) im Park des Gebäudes der Stadtverwaltung von Dryden.

il tramonto
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